2 Jahre später:
Mein Schreibtisch, der durch meine sonst so ordentliche Art immer sehr aufgeräumt
war, gleicht einem Kriegsschauplatz. Neben Essenresten, verklebten Tellern und
irgendwelchen ungeöffneten Briefen (Rechnungen, Mahnungen, irgendwelche Post von
Verwandten) liegen 1000 kleine Zettel herum, auf die ich irgendwelche wichtigen
Informationen fürs Spiel notiert hab. Das einzige was noch ordentlich ist, sind die
ganzen Essens-Bestell-Zettel, die ich mittlerweile gut geordnet am Rand mit
passenden Geldbeträgen liegen hab, damit ich nicht immer durchs ganze Haus rennen
und suchen muss. In letzter Zeit fällt das Spielen viel leichter, da mich so gut wie
nichts mehr dabei stört, denn mein Handy klingelt schon lange nicht mehr und meine
Eltern sehe ich eigentlich nur noch flüchtig, wenn ich mein Zimmer verlasse um
schnell in den Spielpausen auf Toilette zu rennen. Die wenige Bewegung hat sich auch
bemerkbar gemacht- ich hab einen ganz schön dicken Bauch bekommen und wieg jetzt
95Kg. Ich trag meine Haare jetzt länger, weil ich eh nie Zeit finde zum Friseur zu
gehen. Warum auch!? Eine Freundin hab ich schon lang nicht mehr und ich kann mich
schon gar nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte mal auf einer Party war.
Dafür bin ich ein Organisationstalent geworden, was den Alltag angeht, denn alles
wird anhand der Spielzeiten meiner Gilde angepasst, auch wenn ich nun mein reales
Leben nach dem virtuellen richte und nicht mehr umgekehrt. Ich bin Abends 7 Stunden,
6 Tage die Woche mit einer 40-köpfigen Armee unterwegs und bereite mich darauf
vormittags in der Uni 8 Stunden vor. Ich war diesen Sommer nichtmal mit am Strand,
selbst wenn draussen die Sonne brütend heiß war. Na gut, dass hab ich eh nicht
mitbekommen, da meine Jalousien schon über 12 Monate nicht mehr oben waren. Ehrlich
gesagt hab ich auch nicht vor sie hochzuziehen, da auf ihnen der Staub fingerbreit
steht. Ich hatte in den letzten Wochen Schwierigkeiten den Beamer meines Dozenten in
der Uni zu sehen und muss deshalb jetzt eine Brille tragen, dass das daran liegen
könnte, dass ich seit Monaten täglich über 10 Stunden auf meinen Bildschirm gucke
ist mir relativ egal. Mein Desktop, der früher mit nur 5 Symbolen geschmückt war,
ist jetzt voll mit Verknüpfungen von irgendwelchen Foren, WoW-Seiten, Seiten anderer
Gilden oder was sonst noch mit dem Spiel zu tun hat. Nach den anfänglichen Zielen
sind 10 neue gekommen, waren die erreicht, boten sich 20 neue Wege wie ich meinen
Spielcharackter noch verbessern kann. Mittlerweile hab ich kaum noch einen
Überblick, was ich als erstes erledige- denn ich bin momentan dabei das höchste
anzustreben was man im Spiel erreichen kann und was vor mir nur sehr wenige
geschafft haben => Den höchsten Offiziersrang! Ich rechne zwar damit, dass ich für
die Verwirklichung dieses Traumes 3 Monate mit täglich 14 Stunden brauchen werde,
aber dann bin ich echt einer der größten Helden unter den Spielern. Ja Traum, denn
in letzter Zeit drehen sich meine Gedanken auch in den wenigen Stunden abseits des
Rechners rund um das Spielgeschehen. Was mach ich heute, was morgen, wo muss ich
hinreisen, mit wem muss ich noch welchen Tempel erobern, welche Rüstung muss ich mir
noch bauen lassen, wie viel Gold mit meinem Ingame-Beruf erarbeiten.
Vor kurzen hat einer meiner besten Freunde im Game aufgehört mit spielen und bei
seinem sehr ergreifenden Abschiedseintrag im Forum konnte ich mir 2, 3 Tränen nicht
verkneifen. Ich kann mir das immer noch nicht vorstellen, wie das alles ohne ihn
aussehen soll- wir haben doch immer alles zusammen gemacht. Ich weiss noch wie er
sagte: -Weck deine Eltern nicht" als ich mitten in der Nacht schrie als hätte ich
eine Weltmeisterschaft gewonnen, nur weil ich endlich die Waffe bekommen hab, die
ich vergeblich versucht habe seit Monaten zu ergattern. Ja, wenn ich so recht
überlege bin ich emotional schon ziemlich an das Spiel gebunden. Meine Launen
wachsen und dämpfen sich mit dem Spielgeschehen. Erreiche ich etwas neues, bin ich
gut gelaunt, motiviert und sprühe vor neuem ergeiz, habe ich hingegen mit
Misserfolgen zu kämpfen macht sich unter uns der Frust breit.
Nebenwirkungen:
Ich habe in den letzten Monaten versucht, mit jedem über WoW zu reden, der mir über
den Weg lief, ganz egal ob er selber spielt oder nicht. Es ging immer darum noch
mehr zu erfahren, Tipps zu bekommen, oder sich in Fachgesprächen weiter zu
entwickeln. Das ist sicher Grund dafür warum ich nichts mehr mit meinen alten
Freunden zu tun habe. Sie haben einfach kein Verständnis dafür und verstehen nicht
worum es geht und was ich erreicht habe! Dafür wurde jeder, der mir nur ansatzweise
zugehört hat, als ein idealer Gesprächspartner eingestuft und wenn er selbst nicht
spielt, habe ich ihn versucht davon zu überzeugen, mit dem spielen zu beginnen. Als
wäre ich in einer Sekte und werbe um neue Mitglieder, nur damit die
Spielergemeinschaft wächst. Sogar meine Freunde habe ich anfangs vergebens versucht
in diese virtuelle Welt zu ziehen, vielleicht, damit ich endlich mal wieder was mit
ihnen unternehme ohne gleich aufs spielen verzichten zu müssen, oder mein Zimmer zu
verlassen. Eigentlich wurden die parallelen zwischen realem Leben und dem virtuellen
immer verschwommener, denn ich habe im Spiel ein komplett neues Leben geschaffen in
dem ich Verbindungen zu anderen aufgebaut habe, die ich dann wieder pflegen musste.
Ich musste in einem System funktionieren, dass in unserer Gilde (Deutschlandweit
Platz 1) schon militärische Ansätze hatte, denn jeden Abend wurde absolute
Pünktlichkeit, Disziplin und Konzentration von jedem einzelnen gefordert, da der
Druck von aussen stetig wuchs, neue Erfolge zu erzielen. Ich musste im Spiele
Aufgaben erledigen, einkaufen, meinem Job nachgehen und hab immer mehr versucht die
24 Stunden, die mir am Tag zur Verfügung stehen, auf 2 Leben aufzuteilen. Dabei war
nicht selten das Resultat, dass in der einen Welt etwas auf der Strecke blieb, was
in der anderen Welt für Fortschritt sorgte. Ich hab quasi in einem Leben verloren
und dafür im anderen gewonnen. Um dass alles dann noch effektiver zu verbinden habe
ich versucht meine reellen Freunde noch mit ins Spielgeschehen mit einzubinden, aber
auch mein Körper passte sich immer präziser dem Spielgeschehen an, dass ich zum
Beispiel immer pünktlich zu den Spielpausen Hunger bekam und auf Toilette musste,
somit bin ich ein für meine Begriffe noch effizienterer Spieler geworden. Ich zählte
ohnehin als sehr diszipliniert in unserer SpielCommuntiy.
Ist das Spiel einmal durch wöchentliche Wartungsarbeiten o.a. nicht erreichbar, so
weiss man gar nicht recht was man machen soll. Doch statt mal an die frische Luft zu
gehen oder sich andersweitig zu beschäftigen macht man sich über jede
Informationsquelle im Internet her, denn man muss ja am Rechner bleiben, damit man
sich sofort wieder einloggen kann, wenn der Spielserver wieder da ist. So ist es
nicht selten der Fall, dass zu Zeiten der -Serverdowns" sämtliche WoW-Seiten im Netz
völlig überlastet abstürzen, weil Millionen von Spielern gleichzeitig versuchen
ihren Wissensdurst zu stillen.
Ich habe keinen meiner alten Freunde mehr, von meiner damaligen Freundin ganz zu
schweigen. Ich habe nach 16 Jahren meinen Sport aufgegeben, führe meine Hobbys nicht
mehr aus und das Klavier wurde seit mehr als 1 Jahr nicht mehr angefasst. Ich habe
15 Kg zugenommen und beim Fitnesstest vor 2 Wochen (den ich aus eigenem Interesse
absolvierte) ein biologisches Alter von 28 bestätigt bekommen, was bedeutet, dass
ich vom letzten Test bis jetzt in 24 Monaten um 8 Jahre gealtert bin. Ich sehe blass
und ungesund aus, was auch an meiner etwas ungepflegten Friseur liegen kann. Meine
Seekraft hat sich um 25 Prozent reduziert. In der Uni kann ich dem Unterrichtsstoff
schon seit geraumer Zeit nicht mehr folgen, weil ich seit 5 Monaten mit Kopfhörer
spiele, was schon lange keinen mehr Interessiert. Da ich in den Pausen kein Bock hab
aufzustehen, drück ich meistens meiner Banknachbarin ein paar cent in die Hand,
damit sie mir einen Riegel aus dem Automaten mitbringt. Sie ist ohnehin eine der
wenigen die den Raum verlässt, da die 3 Mitschüler um mich herum zum Beispiel auch
bereits das Spiel installiert haben und sie immer nur wie benebelt ein -Ja warte,
gleich" von sich geben, wenn man sie einmal anspricht.
Ich weiss das ich die letzten 2 Jahre im realen Leben nichts erreicht habe- Ich
weiss, dass ich eher 10 Schritte zurück gemacht hab. Wo könnte ich jetzt stehen,
wenn ich die mittlerweile fast 5000 Stunden in etwas anderes investiert hätte. Hätte
ich stattdessen Klavier gespielt, wäre ich sicher besser als Elton John- Hätte ich
5000 Stunden damit verbracht Bücher über Krebs zu lesen, wäre ich sicher einer der
angesagtesten Experten auf dem Gebiet. Oder hätte ich einfach nur, für 5 Euro in der
Stunde, irgendwo einen Nebenjob angetreten, so könnt ich jetzt 25000 Euro mehr auf
meinem Konto verbuchen. Statt dessen tauchen immer wieder häufiger Überweisungen
auf, bei denen Spielgüter mit realem Geld gekauft wurden.
Ich kann mir nicht ausmalen, wie viel von den mittlerweile über 6 Millionen Spieler
das gleiche durchmachen wie ich es hier beschreibe, ich weiss nur, dass es eine
ganze Menge sein müssen, denn all die Spieler, mit denen ich zu tun hatte, weisen
die gleichen Symptome auf und genauso wie ich über solch Warnungen wie hier, immer
hinweg gelesen habe, werden auch andere diesen Artikel abwenden und meinen -So
freaky bin ich nicht, ich hab das alles im Griff" Dabei versuche ich jetzt nur noch
vergebens ein paar Leute zu retten, von denen ich denke, dass sie im wahren Leben
weitaus mehr erreichen können, als eine Spielfigur zu steuern. Denn alleine die
Leader meiner Gilde, die Tag und Nacht für effizienteren Spielfluss und einer
optimierteren Abstimmung sorgen und täglich mit einem ungeheuren organisatorischen
Aufwand viele kleinere Firmen locker übertrumpfen, würden in jedem größeren
unternehmen, einen wahrhaft hervorragenden Manager abgeben. Fazit ist, dass das hier
nicht das Schicksal eines einzelnen Darstellt, sondern vielmehr nur das Spiegelbild
einer großen Masse ist und wenn ich nur einen einzigen Spielern die Augen geöffnet
habe, war es den Aufwand wert, dass hier alles zu schreiben, denn solange man mitten
im Spielgeschehen steht, mit Spielern die alle den gleichen Alltag an den Tag legen,
solange wird man auch nicht die gravierenden Kontraste zur realen Welt sehen, die
selbst ich erst wieder nach einer kleinen Spielpause erkannt hab.
Ich fühle mich immer noch unwohl und kann mich selbst nicht verstehen, wie ich nach
diesem Artikel und all den damit verbunden Erkenntnissen immer noch eine ungeheure
Lust verspüre mich jetzt sofort wieder einzuloggen. Doch ich stelle mich diesen
Entzugserscheinungen und möchte den Absprung von dem definitiv aufregendsten Spiel
der Neuzeit schaffen, damit ich mein reales Leben wieder auf die Reihe bekomme und
die drastischen Wendungen in meinem Leben wieder zum guten kehre.
Im übrigen habe ich meinen Opa immer noch nicht besucht, dabei liegt er seit 7
Monaten nicht mehr im Krankenhaus-. Sondern auf dem Friedhof!
Andy aka. Tinitus
EU. Frostwolf
Vielleicht findet der eine oder andere sich darin.
Was ich damit sagen will geniesst WOW in Maßen egal wie Alt Ihr seid.
Cheers
Vazlav
EU Gilneas