Eh Ihr Euch alle so aufregt und Euch nun wieder gepflegt gegenseitig wegen Ignoranz und Ausbeutertum bzw. Weltverbesserungswunsch und schuldgefühlgeplagtem Gutmenschentum fertig macht - schaut Euch den Beitrag nochmal ganz genau an und glaubt nicht alles blind, nur weil es im Fernsehen in den Tagesthemen ausgestrahlt wird. Es ist weder sinnvoll, einerseits sofort die Moralkeule auszupacken, noch ist es angebracht, das gezeigte einfach mit den üblichen mir-doch-egal,-passiert ja nicht vor meiner Haustür-Sprüchen abzutun. Seht Euch den Beitrag lieber noch einmal genau an und schaltet mal Euer kritisches Denkvermögen ein.
Zunächst einmal: Der Beitrag wurde vom chinesischen Staatsfernsehen produziert. China ist eines der Länder, das die Flagge für Zensur, Menschenrechtsverletzungen und rücksichtslose Ausbeutung der eigenen Bevölkerung ganz weit hoch hält. Wenn in China nun ein Beitrag über die rücksichtslose Ausbeutung der armen Bevölkerung produziert wird, muss man das zuallererst im obigen Zusammenhang sehen und darf keinesfalls den Propagandaanteil innerhalb der gelieferten Informationen außer acht lassen.
China ist eines der ersten Länder mit rigoroser Internetzensur. China ist das Land, in dem heftigst gegen den moralisch und gesundheitlich schädlichen Einfluss von (westlichen) Computerspielen gewettert wird. China ist das erste Land, in dem es eine staatliche Regelung gibt, die den Spieleherstellern aufzwingt, eine Kontrolle in die Spielmechanik einzubauen, damit die Spieler nicht unkontrolliert lang am Computer spielen. Einiges davon mag auf den ersten Blick vielleicht sogar gar nicht so verkehrt klingen. Jedoch sollte man im Hinterkopf behalten, dass dieser "fürsorgliche" Staat der gleiche ist, der das Massaker am Platz des himmlischen Friedens zu verantworten hat, der rücksichtslos millionen Menschen seiner ach so geliebten Landbevölkerung in Armut und Obdachlosigkeit gestürzt hat, als es darum ging, den Yang-Tse-Staudamm zu errichten. China ist der gleiche Staat, der seine Menschen foltern lässt, sobald sie öffentlich eine von der staatlichen Linie vorgegebene Meinung äußern. China ist das Land, das Informanten, die für das westliche Fernsehen als Informationsquelle dienten, wenn es um nicht erbrachte Entschädigungen für Zwangsenteignungen ging, verschleppen und foltern ließ.
Und dieser chinesische Staat ist nun ganz plötzlich um das Wohl seiner von zuhause ausgerissenen Jugendlichen besorgt? Der arme Chinafarmer, der am Ende der Reportage verzweifelt und völlig fertig am Straßenrand unter seiner Laterne sitzt, weil er sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten kann? Ein Reporter, der sich mit "versteckter" Kamera völlig frei in den "Mafia"-Räumen der Goldfarmerorganisation bewegen und sogar die in ihren Betten schlafenden Chinafarmer filmen kann, ohne dabei Verdacht zu erregen? Gequälte Chinafarmer, die ganz entspannt mit ihrem Aschenbecher am Rechner sitzen und sich dabei filmen lassen, wie sie mit Stufe3-Chars in Teldrassil von 'ner Eule gekillt werden, anstatt in High-Level-Gebieten ihren Job zu tun? Spieler, die laut eigener Aussage dermaßen traumatisiert von ihrem Job sind, dass sie rund um die Uhr nur noch ans Töten denken können?
Auf jeder deutschen Lan-Party sind die Zustände auf den ersten Blick ebenso erbärmlich und sehen die Spieler ebenso fertig aus, wie in dieser "Reportage".
Ich will jetzt keinesfalls alles schönreden. Ausbeutung ist eine schreckliche Sache. Aber man sollte, nur weil es im Fernsehen gesendet wird, nicht einfach alles für bare Münze nehmen. Dieser Beitrag wurde vom chinesischen Staatsfernsehen produziert (es gibt da auch nichts anderes). Ich wage daher ganz stark zu bezweifeln, dass auch nur die Hälfte von dem, was hier gezeigt wird, der Realität entspricht. Dazu muss man sich nur einmal ansehen, mit welchen Gepflogenheiten hierzulande Sender wie RTL oder sogar Spiegel-TV nachhelfen, um reißerische Bilder in ihre Kameras zu bekommen. Da wird gern schon mal ein 100-Euro-Schein rübergereicht, damit Jugendliche vor der Kamera bitte mal ein bißchen Randale machen, damit auch ja die Stimmung "realistisch" eingefangen werden kann.
Und wenn man nur mal ganz trocken die Eckdaten betrachtet: In China für 12 Stunden Arbeit am Tag 60-100 Euro pro Monat bei freier Kost und Logis zu verdienen, ist für dortige Verhältnisse äußerst lukrativ. Davon kann die verarmteLandbevölkerung nur träumen. Und ich glaube, dass zumindest dieser Fakt der Reportage stimmt. Wenn man einmal die Intention dieses Beitrags hinterfragt, wird auch schnell deutlich, wozu er gedreht wurde: Die chinesische Jugend soll davon abgehalten werden, sich mit westlichen Einflüssen auseinanderzusetzen, oder gar mithilfe des Kapitalismus' ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Den Fakt des Verdienstes wird sicherlich jeder interessierte chinesische Jugendliche kennen. Würde das Fernsehen hier eine falsche Größe angeben, würde sicherlich kein Jugendlicher dort den Beitrag ernst nehmen bzw. auf ihn sich beziehen, da seine eigene Situation vom hier gezeigten stark abwiche. Daher müssen also die Arbeitsbedingungen und vor allem die psychischen Folgen möglichst drastisch dargestellt werden, damit sich von vornherein möglichst kein Chinese auf solcherlei Tätigkeit einlässt.
Um es noch einmal deutlich zu machen: Klar, handelt sich hierbei für unsere Verhältnisse um Ausbeutung. Ob es sich für chinesische Verhältnisse ebenfalls um Ausbeutung handelt, kann ich nicht beurteilen, denke aber, dass es dort auch weitaus schlimmere Tätigkeiten mit weit weniger Verdienst gibt. Die Eckdaten von 60-100 Euro Monatsverdienst sprechen für mich aber recht klar gegen reine "Sklavenarbeit". Und dass es dem chinesischen Staat bei dieser Reportage wirklich um das körperliche und seelische Wohl seiner Bevölkerung geht, halte ich geradezu für lachhaft. Vielmehr soll hier der vermeintliche westliche Einfluss auf die eigene Bevölkerung möglichst im Keim erstickt werden.
Was genau vermittelt der Beitrag denn wirklich?
1. Wer sich auf die Goldfarmermafia einlässt, wird als erstes seinen Ausweis
los und kann nie wieder weg.
2. Es gibt nichts anderes im Leben mehr als Arbeit und Schlaf: 12 Stunden arbeiten - 12 Stunden schlafen. Nun ja, ich selbst habe auch einen Job, in dem ich sehr häufig 12-16 Stunden am Stück arbeiten muss. 12 Stunden Schlaf hingegen ist für mich der reinste Luxus. Es soll hier also keinerlei Platz mehr für ein soziales Leben vorhanden sein? Halte ich für extrem suggestiv.
3. Wer länger als 2 Monate dabei ist, kann nicht mehr Rennen, weil seine Beinmuskulatur völlig verkümmert ist, wie der fiese Goldfarm-Mafiosi hämisch in die (versteckte) Kamera sagt. Deshalb haben wir hier in Deutschland also so viele Büro-Krüppel... Und Onanieren macht ja bekanntlich auch blind.
4. Wer bei WoW Gold farmt, kann an nichts anderes mehr denken als ans Töten, Töten, Töten.
5. Abgesehen davon, dass man keinen Ausweis mehr besitzt (und sich folglich auch nicht mehr offen auf der Straße bewegen kann), ist dieser "Job" mit so viel persönlicher Schande verbunden, dass man sich nie wieder zu seiner Familie trauen kann.
6. Andauerndes Goldfarmen ist stinklangweilig und macht keinen Spaß - der Job ist also bei weitem nicht so interessant, wie es beim ersten Anschein klingt. Hier stimme ich voll und ganz zu. Allerdings gibt es nicht wirklich viele Jobs in China, bei denen man auf 60-100 Euro Monatsverdienst kommt. Andere Menschen ruinieren sich für dieses Geld gern mal ihre komplette Gesundheit. Erst kürzlich habe ich gelesen, dass ein Arzt in China auch kaum mehr als 120 Euro pro Monat verdient.
8. Keine Zeit zum Essen; die Spieler nehmen ihre Mahlzeit (Reis und Kohl) sogar noch am Rechner ein. Hmm... Wer von uns blickt gerade in einen Spiegel und sieht sich am Rechner hastig seine Mahlzeit hinunterschlingen?
7. Was man noch sieht: Die Räume sind top renoviert und freundlich gestaltet, auf einem Podest stehen Blumen, die Spieler sitzen vor augenschonenden TFT-Displays, sie haben Teetassen und Aschenbecher an ihrem "Arbeitsplatz" und... ohja, ganz zu Anfang grinst einer der "Skalven" sogar. Mal ganz ehrlich: In Berlin sehen eine Menge Internet-Cafés weitaus ranziger aus.
Ich wohne nicht in China, war noch nie persönlich dort und kenne die dortigen Lebensumstände auch nur aus den Medien. Aber wenn man mal eins und eins zusammenzählt, erscheint es doch sehr fraglich, ob die Fakten des Beitrags nicht überwiegend aus Propaganda bestehen, wenn sie nicht sogar vollends gefaked sind.